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Die Freiheit des Menschen

Wenn ich Jud 24 und Röm 9,18 zusammen lese, komme ich logischerweise zu dem Schluss, dass ich Gott für alles Leid in der Welt, das Menschen verursacht haben,verantwortlich machen muss, denn er könnte ja laut Jud 24 die Menschen vor jedem Fehltritt bewahren. Leider aber haben ALLE gesündigt (vgl. Röm 3,10-12; 1Joh 1,18), außer Jesus; d.h. KEINER konnte seine Freiheit wirklich gut benutzen. Die Antwort des Paulus (Röm 9,19-21) kann einen vernünftig denkenden Menschen nicht zufrieden stellen. Auch die üblichen Antworten hinsichtlich der Freiheit der Menschen,die nicht wie Marionetten sein wollen, finde ich unbefriedigend, denn Gott könnte jedem Menschen eine solch KLARE ERKENNTNIS des Guten geben, dass der Mensch dieses Gute so strahlend und anziehend findet, dass er es deshalb in aller Freiheit auch tut.Stattdessen scheint Gott anders handeln zu wollen (vgl. Jes 6,8-10). Für eine Antwort auf diese Probleme wäre ich sehr dankbar.

Vielen Dank für Ihre Frage, die seit Jahrhunderten immer wieder Menschen umtreibt; auch bei Melanchthon, um nur einen prominenten Autor zu nennen, finden sich dazu ausführliche Überlegungen. Lassen Sie uns mit einem Blick auf die von Ihnen genannten Texte beginnen.

Da ist zuerst der Römerbrief, Paulus‘ dogmatisches Vermächtnis sozusagen, in dem er zwischen 50 und 60 n. Chr. eine sehr grundsätzliche Abhandlung des neuen Heils in und durch Christus darbietet. Zweitens der Judasbrief, eine deutliche spätere Schrift (zwischen 80 und 120 n. Chr.), pseudepigraphisch mit judenchristlichem Hintergrund, die mit parakletischen Vorstellungen und einem Traditionsgut bis zur Engellehre für eine weite Vorstellung der Zusammensetzung einer Gemeinde wirbt. Drittens Jesaja, das alttestamentliche Prophetenbuch, das Textmaterial aus dem 8.-2. Jh. v. Chr. zu einer Gesamtkomposition zusammengefügt hat, die von der Hauptfigur des Jesaja bestimmt ist. Jesaja ist sozusagen der Prophet aller Propheten, der die Heilsgeschichte nun mit höchster Autorität überblickt und deutet. Innerhalb dieser Komposition finden sich verschiedene Teilsammlungen, in denen die Kap. 6-8 und 28-31 sicherlich eine besondere Bedeutung haben. Allerdings sind gerade sie auch besonders schwer zu interpretieren. Der von Ihnen herangezogene Auftrag zur Verstockung in 6, 9-11 folgt auf die in den Kap. 1-5 vorgebrachten Vorwürfe, Aufrufe zur Buße und die Weherufe über all jene, die sich der Buße verweigern.

In allen drei Texten wird deutlich, dass sie kunstvolle und komplexe theologische Kompositionen darstellen, die sich im Detail exegetisch noch weit vertiefen ließen. Als theologische Reflexionstexte liegen sie aber, wie fast alle biblischen Texte, auf einer ganz anderen Ebene als jener der direkten Gesprächsebene mit Gott: Die Verstockungsrede in Jes 6, 9-11 ist – wie alle „Reden“ Gottes – daher schwerlich als direkte Rede Gottes zu lesen, sondern als eine Rede, die Gott erzählerisch „in den Mund“ gelegt wird – und zwar möglicherweise so, dass mit ihr eine Art Erklärung für die hartnäckige faktische Verstockung des Volkes gesucht wird. Ob Gott selbst so oder anders handeln zu wollen scheint, wie Sie schreiben, ist unserem Wissen hingegen leider entzogen. Gleichermaßen entzogen bleibt uns, ob und falls ja, wie genau sich Gott den Menschen „gedacht“ hat, ob wir so oder anders „gewollt“ sind und dergleichen anthropomorphisierender Vorstellungen mehr.

Systematisch-theologische würde ich den Blick daher immer umgekehrt von der faktischen Verfasstheit menschlichen Lebens ausgehend auf die faszinierende Deutungsvielfalt der biblischen Texte hin ausrichten. Diese Texte sind tief berührende und in höchstem Maße erstzunehmende Zeugnisse der Gotteserfahrung und der Deutung menschlichen Lebens mit Gott; sie sind in vielfältigen literarischen Gattungen und Formen zum Ausdruck gebracht, die oft bildhaften und erzählenden Charakter haben. Man meint beim Hören und Lesen wirklich mit Gott durchs Leben zu gehen – und das ist auch gut so. Trotzdem braucht es immer die vorsichtige Unterscheidung zwischen dem, was wir von Gott erzählen und Gott selbst.

Im Blick auf unser Thema bedeutet solch ein Ausgang bei der faktischen Verfasstheit menschlichen Lebens, die von Ihnen zu Recht als unbefriedigend bezeichnete Spannung wahr- und leider bitter ernstzunehmen zwischen Freiheit und Gebundenheit, ahnender Einsicht des Guten und Bösen, zuweilen auch klarer Erkenntnis des Guten und Bösen, und der gleichzeitigen Verweigerung, sich am Guten zu orientieren. Wir Menschen sind schon ein eigenartiges Bündel an Widersprüchen, an guten wie bösen Strebungen: „simul iustus et peccator“, wie Luther gesagt hat. Daran könnte man in der Tat verzweifeln, so dass ich Ihren Unmut nur zu gut nachvollziehen kann – Sie wissen sich damit einig mit zahlreichen namhaften Autoren und Autorinnen der christlichen Tradition. Ja, noch mehr: Sie wissen sich darin auch einig mit zahlreichen biblischen Autoren, denn von Gen 1-3 an, die zu Recht zu vergleichsweise später Zeit als die entscheidenden Einleitungstexte in die Bibel gewählt wurden, ist genau diese Spannung des Menschen Thema: Höchstes Potential zu Einsicht und Gutem auf der einen Seite, Sünde und Schuld auf der anderen Seite. Auch hier ist in die Erzählung gepackt, was eine Art Erklärung, eher eine Deutung menschlicher Faktizität sein soll. Diese Faktizität ist das zentrale Thema der christlichen Anthropologie, also einer Anthropologie, die menschliches Leben durch den Gott konstituiert sein lässt. Wie also könnte eine Antwort aussehen? Zu unseren Lebzeiten sicherlich nicht dadurch, dass irgend ein Mensch jemals Gottes Willen, seine Intention, sein Vorhaben mit uns Menschen erkennen könnte: Warum wir so geschaffen sind und nicht anders – wir wissen es nicht. Die Reformatoren haben darauf vor allem mit zwei Vorschlägen geantwortet: Erstens mit dem denkenden Glauben das „simul iustus et peccator“ anerkennen und zwar so, dass wir zugleich die unendliche Liebe Gottes verstehen, mit der wir als diese Menschen in Gottes Gnade gehalten sind. Denn es ist aus dieser gnädigen Anerkennung heraus (und mit dem Bild Jesu Christi vor Augen), dass wir trotz unseres unausweichlichen Egozentrismus in der Lage sind, immer einmal wieder auch wirklich Gutes zu tun. Wir können uns für andere einsetzen, wir können helfen, wir können ein ganzes Stück weit von uns absehen. Zweitens jedoch mit dem frommen Glauben, in dem wir Gott das Unbefriedigende dieser menschlichen Verfasstheit im Gebet immer wieder vortragen und ihn stets neu um seinen Beistand bitten. In Melanchthons Dogmatiken, also in seinen Lehrbüchern, die er für die damaligen Studenten der Theologie und für die akademische Öffentlichkeit seiner Zeit geschrieben hat, sind die Passagen des denkenden Glaubens deshalb immer einmal wieder unterbrochen durch Passagen des frommen Glaubens: Er führt uns im Lehrbuch selbst ins Gebet. Das ist sicherlich eine religiös-nachdenkliche Antwort, aber es dürfte eine der besten sein, die es gibt.

(Prof. Dr. Cornelia Richter)

 

Zum Weiterlesen:

  • Ulrich Berges: Das Buch Jesaja, 1998.
  • Michael Wolter, Römerbrief. Kommentar
  • Roman Heiligenthal: Der Judasbrief. Aspekte der Forschung in den letzten Jahrzehnten, in: ThR 51, 1986, 117-129.
  • Konrad Schmid, Art. Jesaja/Jesajabuch, in: RGG4, Bd. IV, 451-456.
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