Wie wirkt Fürbitte?
Inwiefern ist die Fürbitte wirksam (besonders wenn die Person, für die gebetet wird, nichts davon weiß)?
Ihre Frage ist wesentlich komplexer als Ihre kurze Formulierung auf den ersten Blick denken lässt und führt in das Zentrum des theologischen Denkens:
1) Die erste Antwort auf diese Frage muss lauten, auf welche Weise Fürbitten (und jedes andere Gebet) nicht wirksam sind: Nämlich in irgendeiner Form „magisch“, so dass ich für etwas bitte und das sofort, exakt so wie erbeten eintritt – ich also beispielsweise um Heilung für eine Person bete und diese wie auf Knopfdruck sofort geheilt wäre. Einerseits wäre die damit verbundene Gottesvorstellung problematisch: Ein solches Verständnis würde einen Deus ex machina voraussetzen – einen Gott, der allzeit bereit wäre, sich unseren Wünschen zu unterwerfen.
Andererseits widerspricht eine solche Gottesvorstellung der alltäglichen Lebenserfahrung auch der gläubigsten Menschen: Wir beten, mit voller Ernsthaftigkeit und ganzem Herzen, und dennoch ändert sich nichts, bleibt die Welt so, wie sie ist und war. Das ganze Arsenal spekulativer Theologie müsste aufgefahren werden, um zu begründen, warum Gott in dem einen Fall hilft und seine Hilfe im anderen Fall ausfällt. Mit Blick auf die Situation der Betroffenen würde das jedoch leicht zu einer zynischen Aussage. Ein Glaube, der sich allein auf eine solch direkte Erhörung von Fürbitten gründete, wäre recht fragil. Das zeigt aber sofort die Schwere der Fragestellung: Warum sollte ich dann überhaupt noch eine Fürbitte beten, wenn ich nicht davon ausgehen kann, dass sie eine „Wirkung“ in dem Sinne hat, dass Gott handelnd „von oben“ in die Situation eingreift?
2) Nachdem die Tücken eines solchen Verständnisses aufgezeigt worden sind, wäre nun zu zeigen, wie es anders geht: In der Fürbitte sprechen wir zunächst unsere Bitten um Änderung aus. Das lenkt den Blick auf diejenigen Konzepte, die sich mit der Wirkung von gesprochenen Worten beschäftigen. In der theologischen Forschung greift man an dieser Stelle auf sogenannte Performanztheorien zurück. Performanz meint, dass mich ein Wort so trifft, dass es meine Wirklichkeit grundlegend verändert. Das kann nur für einen Augenblick der Fall sein – oder auch für den Rest meines Lebens (Cornelia Richter). Performanz bezeichnet also ein Geschehen, nach dem die Welt für mich nicht mehr dieselbe ist, wie vorher. Dabei kann sich Performanz entweder dadurch einstellen, dass ich selbst solch lebensverändernde Worte ausspreche, oder auch dadurch, dass mich die Gebetsworte von anderen ansprechen. Performanz kann also sowohl von der betenden Person als auch von derjenigen Person erfahren werden, für die gebetet wird. Gehen wir beide Fälle durch:
a) Performanz auf der Seite des Betenden kann sich immer einstellen. Denn möglicherweise geschieht mir im Aussprechen bereits das, was ich ausspreche: Es kann passieren, dass meine eigenen Worte plötzlich ganz fremd klingen. Sie können mich treffen, wie wenn in ihnen ein Fremder zu mir spricht. Ob sich diese Empfindung einstellt und was mir diese Worte dann sagen, das bleibt meiner Einflussnahme allerdings entzogen. Diese kreative Entzogenheit konstituiert christliches Beten. So verstanden geht Beten über die bloße Selbstreflexion hinaus: Beten ist eine Form performativer Selbstvergewisserung, in der Aktivität und Passivität zusammenfallen, weil Gebet damit rechnet, dass im Modus des Sprechens das Unverfügbare in mein Denken „einfällt“ (Ingolf U. Dalferth) und mein Leben verändert. Wer betet, vertraut darauf, dass, indem „zur Sprache gebracht“ wird, etwas geschehen könnte, was die Kraft hat, mein Leben zu ändern und möglicherweise auch grundlegend zu erschüttern.
Ihre Frage nach der Fürbitte weist jedoch über den Rahmen des rein subjektiven Selbstgesprächs hinaus: In der Fürbitte kommt zusätzlich die Dimension der (Kommunikations-)Gemeinschaft bzw. der Intersubjektivität in den Blick. Deshalb kann es der betenden Person nicht genügen, dass sich im Aussprechen der Bitte bloß in der eigenen Lebenswirklichkeit Trost einstellt. Denn diesen Trost erbitte und erhoffe ich ja gerade für eine andere Person. Die Bitte für jemanden möchte, selbst wo sie den oder die Betreffende nicht erreichen kann, so doch etwas für den oder die Betreffende erreichen.
b) Wie kann die Fürbitte also performant für diejenige Person wirken, für die gebetet wird? Einfach liegt der Fall, wo die Person, für die gebetet wird, anwesend ist oder auf irgendeine Weise Kenntnis davon hat, dass für sie gebetet wird. Hier kann sich Performanz ereignen, weil die gesprochenen Worte ins Leben der Person hineinsprechen können. Sogar im Falle einer eher unspezifisch adressierten Fürbitte (z.B. bei der gemeinsamen Fürbitte im Gottesdienst) kann Folgendes passieren: Wenn ich mit den anderen Betenden in die Worte einer Fürbitte mit einstimme, kann mir plötzlich aufgehen, dass gerade für meine eigene Lebenssituation gebetet worden ist. Es ist nicht selten, dass Menschen auf diese Weise unerwartet von den Worten der Fürbitte getroffen, ergriffen und erschüttert werden.
Die Form der Fürbitte für eine anwesende Person kann jedoch ebenso – gerade wegen der intersubjektiven Verflechtungen – pervertiert werden: Dann nämlich, wenn die Offenheit der Fürbitte nicht gewahrt bleibt und in der Fürbitte eine einzige Deutung der Situation vorgeschlagen wird. So kann die Fürbitte durch die betende(n) Person(en) dazu instrumentalisiert werden, die Deutungshoheit über den Lebensvollzug der Person zu erlangen, für die gebetet wird. Dann ergreift Fürbitte nicht, sondern wird übergriffig. Es wird nicht Trost, Hoffnung, eine Weitung des Blicks ausgesprochen, sondern indirekt das Urteil über die situationsverstrickte Person gefällt, auch wenn die vermeintliche Fürbitte vorgibt dieser Person „zur Seite“ zu stehen. Deswegen muss zumindest versucht werden, die Fürbitte „offen“ zu halten. Das weist aber darauf hin, dass jegliche Form von Erfahrung mit Gott (mit dem Transzendenten) nie vollständig funktionalisiert werden kann – sondern immer unverfügbar entzogen bleibt und überraschend performativ wirksam ist.
c) Das lässt aber die letzte Frage offen: Inwiefern kann Fürbitte im Horizont von Performanz als wirksam gedacht werden, wenn die Person, für die gebetet wird, davon nichts weiß?
Hier sind wir zurückgeworfen auf den betenden Personenkreis: Eine Fürbitte zu beten ist auch das Eingeständnis in die eigene Machtlosigkeit angesichts der Ausweglosigkeit der Lebenssituation eines anderen Menschen. Im Akt des Betens eignen sich gläubige Menschen diese Einsicht in die Wirklichkeit an und bekennen diese. Damit gewinnen sie aber zumindest ein wenig Aktivität in einer sie eigentlich passiv lassenden Situation zurück: Denn 1. artikuliert die Fürbitte die eigene emotionale (oder existentielle) Betroffenheit über das Lebensschicksal eines Mitmenschen; 2. solidarisiert sie sich über diese Beileidsbekundung mit der betroffenen Person; 3. reagiert sie angesichts der eigenen Ohnmacht nicht sprachlos, sondern bringt zur Sprache; 4. was sie aber zur Sprache bringt, ist die Inanspruchnahme Gottes.
Fürbitte ruft Gott an. Deswegen ist zu fragen, was das Sprachspiel des Glaubens sagt, wenn es sich auf Gott beruft. In Anlehnung an Paul Tillich (vgl. seine Andacht „Von der Tiefe“) könnte man sagen: Wer von „Gott“ redet, spricht die Tiefe der Wirklichkeit an. Als Rede von Gott ruft die Fürbitte in Erinnerung, was sich in einer leiderfüllten Lebenssituation nicht von selbst versteht: Wo Gott in Anspruch genommen wird, wird auf eine umfassendere Wirklichkeit gehofft, in der unsere Lebenswirklichkeit aufgehoben ist. Damit kann die leiderfüllte Lebenssituation ihre Totalität verlieren, in der die (Mit-)Leidenden bisher gefangen waren: Die Vielschichtigkeit und Reichhaltigkeit der Wirklichkeit kann einen für die (Mit-)Leidenden bisher nicht dagewesenen Raum – ihre Tiefe eben! – öffnen. Diese Tiefe der Wirklichkeit überlässt keinem leidvollen Status quo das letzte Wort. Stattdessen hält sie immer die Möglichkeit offen, dass dieser transzendiert werden könnte, dass es eben „anders“ werden kann (wie hier schon von D. Rossa angedeutet). Tillich schlägt deshalb vor: „Vielleicht solltet ihr diese Tiefe Hoffnung […] nennen“ (Von der Tiefe, 57).
In dieser Hoffnung kann Fürbitte also performant wirken, indem sie einen auf Gott ausgerichteten (Sprach-)Raum öffnet, in den sich neben die Betenden auch andere Mitleidende und vor allem die leidenden Personen selbst mit hineinstellen können. Denn nicht alle vom Leid Betroffenen müssen dazu im Stande sein, im Gebet Gott „in Anspruch“ zu nehmen. Es genügt, wenn das die Gläubigen stellvertretend machen. Carl Heinz Ratschow weist darauf hin, dass die Gläubigen durch dieses Zeugnis zu Repräsentanten der Wirklichkeit Gottes im Leben auch der Menschen werden, deren Lebensumstände es ihnen unmöglich machen, sich selbst Gott anzuvertrauen (vgl. „Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes“, bes. 225-235). Die Betenden adressieren Gott als die Tiefe der Wirklichkeit: Allen anderen wird darin in Erinnerung gerufen, dass es eine Perspektive gibt, die mit einer solchen schöpferischen und lebendigen Tiefe rechnet. Gelingt dieser Vorgang, dann handelt es sich um ein performantes Geschehen: Durch den Akt der Fürbitte ragt Gottes Wirklichkeit in die Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen hinein – als fraglich-fragile Wirklichkeit zwar, aber dennoch als Eröffnung von Raum und Möglichkeiten. In diesem Sinne kann die Fürbitte als eine Form von gelebter Hoffnung verstanden werden.
(WM Katharina Opalka/WM Daniel Rossa)
Zum Weiterlesen:
- Korsch, Dietrich: Antwort auf Grundfragen christlichen Glaubens, Tübingen 2016, 232-245.
- Ratschow, Carl Heinz: Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes. Gedanken zur Lehrgestaltung des Providentia-Glaubens in der evangelischen Dogmatik, in: Ders., Von den Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie, zum 75. Geburtstag hg. v. Ch. Keller-Wentorf u. M. Repp, Berlin/New York 1986, 117-139, bes. 125-135.
- Richter, Cornelia: Ethik der Zwischenphänomene? Glaubensreflexion in lebensbegleitender Absicht, in: Michael Roth/Marcus Held (Hrsg.): Was ist eine theologische Ethik? Studienbuch, Berlin 2018.
- Tillich, Paul: Von der Tiefe, in: Ders., In der Tiefe ist Wahrheit. Religiöse Reden 1. Folge, Frankfurt a.M. 81982 (1952), 51-61.