„Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“
Wie soll man an etwas glauben, das man nicht sehen kann?
Tatsächlich wird im Neuen Testament Glaube an einer Stelle ziemlich genau so beschrieben, wie er Ihnen infrage steht: „Es ist aber der Glaube […] ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Hebr 11,1). Insofern stellt sich dem Christentum Ihre Frage seit seinen Anfängen. Dazu gehört der aufklärerische Anspruch, den Fragen und Sachverhalten emanzipiert selbst „auf den Grund“ zu gehen, um sich nicht „für dumm verkaufen“ zu lassen. Viele unserer spät- bzw. postmodernen Zeitgenossen leben aus diesem Grund nach der Devise „Ich glaube nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.“ Zwar erscheint mir diese Prämisse zu reduktionistisch, um tatsächlich der Tiefe der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen. Von ihrem Standpunkt ist es aber nur zu verständlich, dass sich diese Fragerichtung einstellt, auf die auch Ihre Frage hinausläuft.
Dabei halte ich die von Ihnen, wie vom Verfasser des Hebräerbriefes benannte Nichtsichtbarkeit gar nicht für das eigentliche Glaubwürdigkeitsproblem. Auch spätmoderne Menschen rechnen in ihrem Leben durchaus mit Nichtsichtbarem: Wind, Mikro- und Radiowellen und Magnetfelder, sogar die Luft die wir atmen sind unsichtbar und trotzdem bestimmen sie durchgehend unser alltägliches Leben. Doch Gottes Wirklichkeit, die Sie mit Ihrer Frage ja implizit hinterfragen, wird nicht bloß in dem Sinne als nicht sichtbar gedacht, wie es z.B. der Wind ist: Trotz seiner Unsichtbarkeit lässt der sich ja etwa auf der Haut spüren und seine Dynamik wenigstens ein Stück weit naturwissenschaftlich-meteorologisch bestimmen. Mit Gott verhält es sich unserer Denktradition hingegen so, dass er sinnlich in gar keiner Weise fassbar ist: Weder kann er in einem eigentlichen Sinne gesehen, gerochen, gehört, auf der Haut gespürt oder gar geschmeckt werden. (Selbst die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi im katholischen Abendmahl lässt sich geschmacklich nicht nachvollziehen – das ist ja gerade die Pointe der Transsubstantiationslehre!) Religiöse Redeweise biblisch-christlicher Tradition bedient sich zwar solcher Sprachbilder, aber sie tut es, damit zur Sprache kommt, was zugleich die Sprache verschlägt.
In der Denktradition unseres Kulturraumes wird Gott also als uns sinnlich nicht zugänglich gedacht und das ist seit Kant gleichbedeutend damit, dass die mit dem Wort „Gott“ gemeinte Wirklichkeit keinen Gegenstand unseres Erkenntnisvermögens (theoretische Vernunft) bedeuten kann, weil sich dieses immer auf sinnlich Wahrnehmbares bezieht. Etwas einfacher gesagt: Gott ist kein Ding, kein mit den Sinnen erkennbares Objekt und deshalb würde jeder empirische Zugang das verfehlen, was in unserer Tradition mit Gott bezeichnet wird. Stattdessen wird Gott als transzendent (d.h. jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung und unserer Vorstellungsmöglichkeiten) verstanden.
Religionsgeschichtlich ist diese Denkrichtung bereits in genuin alttestamentlichen Transformationen des Gottesgedankens angelegt, die zuletzt Friedhelm Hartenstein in einer Reihe von Aufsätzen zum Projekt einer Theologie des Alten Testaments herausgearbeitet hat – ich beziehe mich im Folgenden auf seine Arbeiten: Katalytisch waren dabei Prozesse des Umdenkens, die im Umfeld der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Deportation der israelitischen Eliten stattfanden: Zur Sinnstiftung in dieser augenscheinlich sinnlosen und gottverlassenen Situation knüpften diese a) an den prophetischen Deutungsstrang von Gerichts- und Unheils-Prophetie an, b) an die Erhalter-Dimension des Wetter-, Fruchtbarkeits- und Nationalgottes JHWH, sowie c) an bereits im Tempelzeremoniell gepflegte Lokalisierungs- und Interaktionstraditionen, in denen JHWH als personaler Gott adressiert wurde. Das eröffnete eine Perspektive aus der die Zerstörung des Jerusalemer Tempels anders denn als Niederlage des eigenen Nationalgottes JHWH verstanden werden konnte – nämlich als im Rahmen der Erfüllung/des Vollzugs des von JHWH angekündigten Urteils an seinem Volk aufgrund Israels vorheriger (prophetisch maßgeblich sozial und politisch gedachter) Untreue.
Diese Deutung machte einerseits den Weg frei für ein universalisiertes Gottesverständnis: Wenn andere Völker und deren Götter auf Weisung JHWHs hin dessen Urteil an Israel vollzogen, dann spielt JHWH als Gott „in einer anderen Liga“ als die Nationalgötter. Die Erhalter-Dimension JHWHs als Wetter- und Fruchtbarkeitsgott wurde zum Schöpfergott universalisiert, der die Fäden der Weltregierung souverän in der Hand hält. Diese Universalisierung löste auch das Problem, dass der bisherige Ort der Gegenwart JHWHs, der Jerusalemer Tempel, zerstört und zudem für die Deportierten räumlich völlig unerreichbar war. Dem universalen Schöpfergott musste anders begegnet werden können. Der von überall zugängliche meteorologische Himmel repräsentierte von da an die universale Allgegenwart Gottes als Schöpfer, Erhalter und Weltregent (eine Aufnahme von Gedankengut aus dem Umfeld der Kultur, in die hinein die Israeliten deportiert worden waren!).
Zugleich bekam die Anrufung Gottes durch seinen Namen eine erhöhte Bedeutung: Man vertraute darauf, dass Gott präsent wird, wo er durch die Nennung seines Namens repräsentiert und adressiert wird. Dabei weist das Konzept des Namens auf die geistige und personale und darin im Letzten unzugängliche Wirklichkeit Gottes hin: Ein Name ist kein Begriff, durch den der Benannte abschließend definiert wäre. Die Nennung des Namens lässt offen, wer der Angerufene ist. In ihr adressiere ich mein Gegenüber bloß, kann aber nicht frei und beliebig über es verfügen, sondern bin auf sein freies Entgegenkommen und seine unverfügbare Zuwendung angewiesen: Ich kann ihn/sie adressieren, ihm/ihr Sachen „an den Kopf werfen“, ihm/ihr aber nur „vor den Kopf“, nicht „in den Kopf“, schauen – nicht „ins Herz“ sehen (vgl. 1 Sam 16,7): Das Innerste der Persönlichkeit meines Gegenübers bleibt mir entzogen. Die Rede in anthropomorphen Gottesbildern (eben Kopf, Herz, Auge oder Hand Gottes) impliziert also vor allem einen Gott, der „Persönlichkeit hat“ – d.h. einen Gott, der lebendig ist und damit undurchschaubar bleibt.
Die deportierten Israeliten universalisierten und vergeistigten ihr Gottesverständnis zur Aufrechterhaltung ihrer Gottesbeziehung und um mit ihrer veränderten Lebenssituation leben zu können. Der so vorgenommenen Transformation des Gottesgedankens war jedoch eine Dynamik eigen, die die konkrete historische Situation problemlos überstieg (transzendierte!) und schließlich dazu führte, dass Transzendenz zu einem wesentlichen Merkmal auch des christlichen Gottesverständnisses wurde – so weit Friedhelm Hartenstein. Dabei weist christlicherseits spätestens Gregor von Nyssa (4. Jh.) darauf hin, dass Gottes Transzendenz nicht als Folge unserer Unfähigkeit gedacht werden dürfe, Gott zu begreifen. Vielmehr markiere umgekehrt Gottes Transzendenz sein (unzugängliches = freies) Wesen, seine Göttlichkeit. Damit steht Gregor in einer Linie mit den alttestamentlichen Schriften, die Gottes Entzogenheit nicht als Defizit verstehen, sondern als Differenzkriterium zur Unterscheidung Gottes und Ausweis seiner Göttlichkeit gegenüber allen von Menschen errichteten Abgöttern.
Ist Transzendenz der Maßstab dafür, wie treffend oder unzutreffend der Gottesgedanke auf die Wirklichkeit des mit „Gott“ bezeichneten hindeutet, dann hat das Folgen: Per se kann nichts positiv Gegebenes (kein Mensch, nichts Menschengemachtes, nichts auf der Welt) die Stelle Gottes besetzen. Damit bekommt der Gottesgedanke für Christinnen und Christen eine wichtige kritische Funktion, die sich bei Paulus folgendermaßen liest: „[U]ns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig“ (2 Kor 4,18). Einzig die Transzendenz Gottes verhält sich im Weltenlauf nicht temporär, sondern beständig, sodass im Kontrast zu ihr die Relativität alles Zeitlichen sichtbar wird. Das ermöglicht Christinnen und Christen zwischen „Letztem und Vorletztem“ (vgl. Bonhoeffer, Ethik, Kap. IV) zu unterscheiden. Diese Unterscheidung bedeutet einen Zuwachs an Freiheit, weil der Gedanke göttlicher Transzendenz die Widerstandskraft gegen übergriffige Absolutheitsansprüche jeder Form aktiviert: Er weist die Ansprüche politischer Ideologien, weltanschaulich-religiöser Fundamentalismen, sozialer Umfelder und ihrer Moralvorstellungen, gegenwärtiger Gesellschaftsordnungen, ästhetischer Ideale, hedonistischer Momentüberhöhung, ökonomischer Märkte und ihrer Konsumsuggestionen, medizinischer, sportlicher und technischer Vollkommenheitsphantasien in die Schranken. Im Angesicht des so formulierten Gottesgedankens wird einsichtig, dass sie alle nicht „der Weisheit letzter Schluss“ sind, sondern immer noch einmal überschritten, transzendiert, werden können und dürfen. Das schließt natürlich auch die Überprüfungen christlich-theologischer Positionen mit ein, die meinen, ihre eignen Gottesgedanken an die Stelle Gottes setzen zu können. Stattdessen hat seriöse Theologie immer die Differenz von Gottesgedanke und Gottes Wirklichkeit offenzuhalten (vgl. Ingolf U. Dalferth: „Philosophische Hermeneutik von ‚Gott‘“ in seiner Religionsphilosophie „Die Wirklichkeit des Möglichen“).
Mit Blick auf Gott und den biblischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit (Gen 1,26f.) gilt diese transzendierende Wirkung auch für das je eigene Selbstverständnis (ebenfalls ein Gedanke Gregors von Nyssa): Wir sind nicht gezwungen die zu bleiben, die wir sind oder meinen immer schon gewesen zu sein. Auch von anderen brauchen wir uns nicht darauf oder auf bestimmte Rollen festlegen zu lassen. Gottes Transzendenz beinhaltet das Versprechen an den Menschen, frei von sich selbst zu werden. Denn wo er sich auf den transzendenten Gott einlässt, reißt ihn Gott über sich selbst hinaus. Damit erhält der Gottesgedanke letztendlich eine denkpragmatische und lebenspraktische Orientierungsfunktion, wie Kant sie ihm in seiner Kritik der praktischen Vernunft attestiert. Direkt einsichtig ist Gottes Wirklichkeit dem Menschen nicht, aber im denkenden Ausrichten auf den im Gottesgedanken bezeichneten transzendenten Gott wird mir ein Leben möglich, in dem ich freier von mir selbst und freier von den von außen an mich herangetragenen Ansprüchen Anderer sein kann.
Das geht auf Kosten meines Wissens, wie an einem Ausschnitt aus dem fiktiven Lehrdialog De Deo abscondito (übersetzt von D. und W. Dupré) des Nikolaus von Kues ersichtlich wird: In diesem fragt jemand ohne Glauben einen Christen völlig entgeistert: „Wie kannst du mit solchem Ernst etwas anbeten, das du nicht kennst?“ Daraufhin gibt der Christ zurück: „Eben weil ich ihn nicht kenne, bete ich ihn an.“ Das erscheint demjenigen ohne Glauben fragwürdig: „Seltsam, daß ein Mensch von etwas ergriffen wird, das er nicht kennt.“ Woraufhin der Christ zu bedenken gibt: „Noch seltsamer ist, daß ein Mensch von etwas ergriffen wird, das er zu wissen meint.“ In Aufnahme und Transformation Ihrer eingangs gestellten Frage, stellt sich aus der Perspektive des Glaubens also die entgegengesetzte Frage: Wie sollte man an etwas glauben, das man sehen bzw. das man wissen kann? Den Anspruch erheben zu wollen, zunächst exakt bestimmen zu können, wer oder was Gott ist, bevor ich ihm glaube, macht gerade Gottes Göttlichkeit zunichte, indem es den unendlichen Gott für erfassbar durch den Geist des endlichen Menschen hält (statt zu sagen: finitum non capax infiniti). Auf diese Weise kann der/das im Christentum mit „Gott“ gemeinte schon von vornherein nicht in den Blick kommen. –Schon allein deshalb, weil Gottes Wirklichkeit damit durchschaubarer und lebloser wäre, als es die lebendigen Menschen sind, denen wir tagtäglich begegnen und mit denen wir zusammenleben müssen, ohne wirklich zu wissen, was in ihnen vorgeht.
Der Zugewinn dieser riskanten Strategie, die Grenzen dessen zu akzeptieren, was wir wissen können und so für den Glauben Platz zu erhalten (Kant) ist ein beträchtlicher: Während Wissen feststellt und festschreibt, also etwas Endgültiges und Abschließendes bieten möchte, schließt die Perspektive des Glaubens eine Geschlossenheit aus und öffnet jedes menschliche Weltbild hin auf die Tiefe der Wirklichkeit, die sich dahinter verbirgt. Diese Tiefe wird vom Glauben als Hoffnungshorizont wahrgenommen, der der Wirklichkeit ihren Möglichkeitsspielraum eröffnet und ihr darin ihr Leben zurückgibt. Eingängig formuliert das unser Eingangszitat aus dem Hebräerbrief: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (11,1). Angesichts dessen, was man alles nicht weiß, bildet der Glaube eine Haltung der vertrauensvollen Hoffnung, gerade hierin auf den transzendenten Gott als „Unter-Grund“ unserer Lebenswirklichkeit verwiesen zu sein. Womöglich mag der Welterschließungsmodus des Wissens ein klareres Gefühl von Sicherheit vermitteln. Aber der Wirklichkeitszugang der Hoffnung im Glauben besticht durch die sich in ihr eröffnende Weite der Wirklichkeit. Ihr dürfen wir uns im Horizont des Gottesgedankens ruhig vertrauensvoll, hoffnungsfroh und befreit überlassen.
(WM Daniel Rossa)
Zum Weiterlesen:
- Dalferth, Ingolf U.: Ganz anders: Negationstheologische Korrekturen, in: Ders., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 516-548.
- Hartenstein, Friedhelm: Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments: Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche (Biblisch-Theologische Studien 165), Göttingen 2016.
- Jaeschke, Walter: Philosophische Theologie nach Kant. Die Vernunft in der Religion, in: Danz, Christian/Dierken, Jörg/Murrmann-Kahl, Michael (Hgg.), Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie (Beiträge zur rationalen Theologie 15), Frankfurt a.M./Berlin/Bern u.a. 2005, 15-30.
- Mühlenberg, Ekkehard: Die Theologie der Unendlichkeit, in: Ders. Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa, Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik, Göttingen 1966, 200-205.
- Nikolaus von Kues: De Deo abscondito, in: Ders., Philosophisch-theologische Schriften. Lateinisch-Deutsch, in 3 Bd., hg. v. Leo Gabriel, Bd. 2, Darmstadt 2014, 299-309.
- Wagner, Falk: Gott – ein Wort unserer Sprache?, in: Faulhaber, Theo/Stillfried, Bernhard (Hgg.), Wenn Gott verloren geht. Die Zukunft des Glaubens in der säkularisierten Gesellschaft, Freiburg/Basel/Wien 1998, 222-240.