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Gott im Café: Welterschließungen und Weltanschauungen

Mich interessiert Prof. Dresslers Ansatz, im RU davon zu sprechen, Welterschließungsmodi zu vermitteln statt Weltanschauungen. Es wäre toll, wenn er die Unterscheidung, die er in den beiden Begriffen aufmacht, noch einmal näher erläutern könnte.

 

Diese Frage knüpft an das Gespräch bei "Gott im Café" zu dem Thema "Religion - Werte - Bildung" und wird von unserem Gast Prof. em. Dr. Bernhard Dressler beantwortet:

 

Wir sind alle völlig unabhängig von religiöser oder „weltanschaulicher“ Position unvermeidlich in „Modi der Welterschließung“ (oder: des Weltverstehens; oder des Weltumgangs) verstrickt, weil das Leben in der kulturellen Moderne von der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rationalitäts- und Wertsphären geprägt ist. Die Soziologen sprechen von unterschiedlichen Subsystemen mit ihren je eigenen Regeln und Urteilsmaßstäben. Die Wirtschaft, die Politik, die Kunst, die Pädagogik, Naturwissenschaft und Technik usw., und eben auch die Religion unterliegen jeweils unterschiedlichen Rationalitätsmodi und -formaten. Der Bildungsforscher Jürgen Baumert unterscheidet im Hinblick auf das Bildungssystem vier solcher Modi: 1. kognitiv-instrumentelle Rationalität (Mathematik und Naturwissenschaft), 2. ästhetisch-expressive Rationalität (Literatur, Kunst, Musik, Sport – im Sinne leiblicher Expressivität), 3. moralisch-evaluative Rationalität (Geschichte, Politik), 4. konstitutive Rationalität (Religion/Philosophie). Von diesen Bildungsperspektiven, die man mit von Hentigs Formulierung „Die Sachen klären und die Menschen stärken“ verbinden kann, unterscheidet Baumert sog. „kulturelle Basiskompetenzen“ (Lesen, Schreiben, Rechnen, Fremdsprachen etc.). Einerseits wird damit der weite Horizont des schulischen Fächerkanons begründet. Die schulische  Allgemeinbildung soll eben im Interesse der Fähigkeit, am kulturellen Gesamtleben teilnehmen zu können, die Welt als ganze in ihrer Vielfalt zu verstehen geben, und nicht einfach „nur“ pragmatisch aufs Leben vorbereiten (etwa durch die Fähigkeit, Steuererklärungen zu schreiben, statt Gedichte in vier Sprachen zu interpretieren, wie jüngst mit beängstigender Resonanz eine Kölner Schülerin auf Twitter klagte). Die „Modi“ haben zwar jeweils ihren spezifischen Ort in den allgemeinbildenden Fächern, fallen mit diesen aber insofern nicht zusammen, weil man z.B. Religion durchaus auch ästhetisch oder historisch oder soziologisch betrachten kann, manche meinen sogar: auch naturwissenschaftlich (etwa als evolutionstheoretisches oder neurologisches Phänomen). Ein Beispiel: Man kann ein Gemälde mittels der chemischen Analyse seines Farbmaterials untersuchen. Das hat sein Recht z.B. bei der Ermittlung einer Fälschung. Man kann ein Gemälde auch religiös untersuchen, wenn es z.B. als Ikone in Kulthandlungen gebraucht wird. Aber nur ein ästhetisch begründetes Urteil wird dem besonderen künstlerischen Gehalt eines Gemäldes gerecht. Jeder Modus erschließt keine andere Welt, aber diese Welt als eine andere. Die Modi sind nicht wechselseitig substituierbar. Keiner hat einen systematischen Vorrang, sondern ist immer nur in Bezug auf je spezifische Handlungsfelder vorzuziehen. Im Modus konstitutiver Rationalität wird nun der Umgang mit unterschiedlichen Erkenntnisperspektiven und Handlungsmaximen gleichsam reflexiv. Man könnte hier insgesamt an die berühmten vier Fragen Kants anschließen (Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?), ist aber zugleich genötigt, die sich überschneidenden Felder der Religion und der Philosophie einer Art „Feinunterscheidung“ zu unterziehen, die ebenfalls weniger thematisch als modal erfolgen muss. Während es nämlich in der Philosophie um die diskursive Erörterung dieser Fragen geht, setzen sich Menschen religiös zu diesen Fragen im Bewusstsein des darin thematisierten Unbedingten und Unverfügbaren ins Verhältnis, und zwar – insbesondere in der christlichen Religion – in den kommunikativen Formen von Erzählungen, Symbolen und Metaphern. Dabei gehen dann, anders als in der Philosophie, die kommunikativen Vollzugsformen mit den Vorstellungsgehalten zusammen, anders gesagt: die „Gehalte“ sind nicht ohne die „Gestalten“ zu begreifen, weil in diesen semantische Überschüsse enthalten sind, die anders als Tatsachenbehauptungen zu verstehen sind.

 

(Prof. em. Dr. Bernhard Dressler) 

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