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Sterbeworte Jesus - "warum" oder "wozu" hast du mich verlassen?

Frau Ruth Lapide betont (fast in jeder Sendung), Jesus habe nicht gebetet "mein Gott, WARUM hast du mich verlassen?" sondern "...WOZU hast du mich verlassen?" Gibt es eine DEUTSCHE Übersetzung, die das bestätigt?

In der (noch) gängigen Luther-Übersetzung von 1984 steht das „warum“, in der Einheitsübersetzung (1980) und in der Zürcher Bibel (1955) ebenfalls. Sogar die mit hohem aktuellen exegetischen Anspruch erstellte Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache (2006) übersetzt den Mk-Vers mit „warum“. Dessen ungeachtet ist die Frage exegetisch wie systematisch interessant, wobei ich als Systematikerin Aussagen der exegetischen Fachkolleg/innen selbstverständlich nur lernend und auf der Basis der standardmäßigen Hilfsmittel kommentieren kann:

Grundlage für die Debatte sind die Texte in Mk 15,34 und Mt 27,46, in denen Psalm 22,2 zitiert wird. Unklar ist in der Forschung, ob Jesus diese Worte tatsächlich selbst gesprochen hat oder ob sie ihm in der mündlichen und schriftlichen Überlieferung zugeschrieben wurden. In Ps 22,2 steht למה lema, das laut dem Hebräischen Standardlexikon „Gesenius“ (Hebräisches und aramäisches Wörterbuch über das Alte Testament, 18. Auflage) über die Grundform מה als „warum, wieso, weshalb“ übersetzt wird; ein Hinweis auf eine etwaige besondere Übersetzung in Ps 22 findet sich dort nicht. Allerdings ist dieses „warum“ als Fragepronomen in unterschiedlicher Hinsicht übersetzbar: So lässt es sich eher rückblickend verwenden, d.h. als Frage nach vergangenen Taten oder Absichten, ebenso vorausblickend als Frage nach der künftigen Intention (auch wenn das überwiegend in Verbindung mit einem folgenden Substantiv zu erwarten wäre) und schließlich in einer relativen, eher indirekten Bedeutung bis hin zur „wofür“-Perspektive. Folgt man Bernd Janowski (Konfliktgespräche mit Gott, 2003), so hat Mk „das aramäische Fragewort lema sachlich richtig mit εἰς τί übersetzt“, so dass es um eine wozu-Frage gehe: Das Fragepronomen markiere damit „das Erfragte nicht als vorfindlichen Grund, sondern als intendierte Absicht, die als Grund für etwas angesehen“ werde (360, Anm. 56). Die Frage sei also gerade nicht in die Vergangenheit gerichtet, sondern „in die Zukunft. Diese Orientierung an der Absicht bzw. dem Sinn des göttlichen Handelns ist charakteristisch für die למה -Fragen im Psalter […] und besonders auch für Ps 22,2“. Der besondere Gewinn scheint für Janowski mit Bezug auf Diethelm Michel ("Warum" und "Wozu"?, 1988/1997) darin zu liegen, dass die lema-Frage nicht einen Bruch mit Gott, einen Glaubensverlust, indiziert, sondern als eine Frage des zwar angefochtenen, aber immer noch auf Gott bezogenen Glaubens zu hören ist.

Was bedeutet dies für die Forschung? Ungeachtet der offensichtlichen Tatsache, dass die Interpretation bei Janowski und Michel mit einem apologetischen Interesse ringt, halte ich die endgültige Entscheidung der Frage aus systematisch-theologischer Sicht für weniger bedeutsam als es bei Janowski der Fall ist. Zwar ist es ohne Zweifel sinnvoll, über die unterschiedliche Frageperspektive nachzudenken und deren jeweilige Implikationen zu reflektieren: Zum einen für die Szene am Kreuz in ihrem jüdischen bzw. frühchristlichen Kontext, in dem möglicherweise eine der beiden Varianten zentraler war als die andere. Zum anderen, und darauf lege ich im Folgenden den Schwerpunkt, für die Rezeption der Psalmworte im eigenen Leben, insbesondere in allen seelsorgerlich relevanten Gesprächskontexten. Aber eine eindeutige Entscheidung für die warum- oder die wozu-Version halte ich systematisch-theologisch für verkürzt.

Auf den ersten Blick nimmt die rückwärtsgewandte warum-Frage die aktuale verzweifelte Situation zum Anlass, das bisherige Leben zu reflektieren und in Bezug zu Gott zu setzen, was sicherlich die Frage nach Schuld mit sich bringt, eventuell sogar die Frage nach Strafe. Sich solchermaßen vor Gott gestellt zu sehen, kann im wahrsten Sinne des Wortes ungeheuer bedrängend sein, bis hin zum Abbruch des Gottesverhältnisses – mit Blick auf Jesus erklärt sich daraus das apologetische Interesse mancher Theologien. Die Schwäche der rückwärtsgewandten warum-Frage liegt deshalb in ihrer erwartbaren Fokussierung auf eigene Schuld und deren unheilvollen Verknüpfung mit dem Verdacht, das eigene Leid könnte Strafe Gottes sein. Unheilvoll ist diese Fokussierung besonders dann, wenn die Fortsetzung des Ps 22, in der Gottes Heilszusage akklamatorisch anerkannt und eingefordert wird, nicht mehr im Bewusstsein ist. Die Stärke der warum-Frage liegt jedoch darin, das eigene Leben schonungslos in den Blick zu nehmen, es ebenso schonungslos in seinem Verhältnis zu Gott zu sehen und damit ein Ventil zu haben für all jene Konflikte, die wir möglicherweise noch unausgesprochen in uns tragen. Diese Reflexion auf das eigene Tun und Handeln ist im christlichen Glauben verbunden mit der Vorstellung des Gerichts, in dem wir uns einst vor Gott zu verantworten haben. So verstanden ist der Schrei aus Ps 22,2 für den gegenwärtigen christlichen Glauben daher nicht zwangsläufig Indiz für einen Abbruch der Beziehung zu Gott, sondern gerade umgekehrt die Antizipation neuer Zuordnung zu Gottes umfassender Macht.

Die vorwärtsgewandte wozu-Frage hingegen setzt zwar ebenfalls in der aktual verzweifelten Situation ein, drängt aber auf eine sinnstiftende Heilshoffnung. Sich solchermaßen vor Gott gestellt zu sehen, rechnet mit Gottes Heilsplan, in dem auch das eigene Leid einen sinnvollen und verstehbaren Ort haben soll. Doch so einfach ist es nicht; die stärkenden und abgründigen Aspekte sind auf beide Fragen verteilt. Für die wozu-Frage scheint mir die Stärke darin zu liegen, diese Zuordnung zu Gottes umfassender Macht von vornherein im Vertrauen auf Gottes umfassende Macht auszusprechen. Doch genau darin verbirgt sich die Schwäche der wozu-Frage, die umso problematischer werden kann, wenn sie unreflektiert bleibt: Wird eine Situation höchster Not sofort auf eine heilvolle Zukunft hin projiziert, kann dies auf ein Ausweichen, ein nicht-wahrhaben-Wollen und damit auf eine Verdrängung der Not hindeuten. Das Leid bliebe dann ein Fremdes, von außen Zugetanes, das in das eigene Leben nicht integriert werden soll und darf. Damit allerdings bleibt sich auch der leidende Mensch fremd, denn damit ist jede Anerkennung des Leids als zum eigenen Leben gehörig versagt – und in der Folge jede Anerkennung des eigenen Lebens, das eben ist, wie es ist.

Im Fazit würde ich daher aus systematisch-theologischen wie aus seelsorgerlichen Gründen für das Offenhalten beider Frage-Varianten plädieren. 

(Prof. Dr. Cornelia Richter)

 

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