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Kurzer Abriss der Sündenlehre

Mich interessiert ein Überblick über die Sündenlehre in der Dogmengeschichte - und zwar so beantwortet, dass auch Laien, die Unterschiede verstehen! Speziell auch für Laien nachvollziehbar den Begriff Sünde bei Paul Tillich - eventuell auch im Gegensatz zu Karl Barth.

Ihre Frage füllt normalerweise eine einsemestrige Vorlesung, weshalb ich hier wirklich nur ein knappe Skizze anbieten kann – das aber gerne und ich beginne, für die reformatorische Theologie typisch, mit Luther:

Bei Luther ist der Mensch in seinem innersten Selbst böse, weil er sich immer an die Stelle Gottes setzen möchte. Geschaffen wäre er zwar gut, aber seit dem Fall ist er von der Macht des Teufels überwältigt. Trotzdem und unbegreiflicherweise ist er von Gott als dieses fehlbare Wesen anerkannt. Das meint die Kurzformel „simul iustus et peccator“, wir sind gerecht und sündig zugleich. Diese Einsicht gibt es nur durch das Evangelium, von dem her wir das Gesetz erst als Gesetz und die Sünde als Sünde verstehen.

Der Philosoph I. Kant steht ganz in der Tradition Luthers, wenn er den Menschen 1793 in der Religionsschrift als „radikal böse“ bezeichnet. Der Mensch hat zwar eine „Anlage zum Guten“, aber eben auch den „Hang zum Bösen“, dem er kaum ausweichen kann. Gleichwohl hat Kant Gen 3 nicht als bloße Verfallsgeschichte gelesen, sondern als Realisierung menschlicher Freiheit: Wir sind als Menschen geschaffen, die frei entscheiden müssen, die sich deshalb zu ihrem Hang zum Bösen verhalten müssen, die sich dazu aber auch verhalten können. Realisierung der Freiheit nimmt in diesem Sinne die schöpfungsmäßig gegebene Freiheit des Menschen sehr viel ernster als manche zu eng gedachte Theologie – deshalb ist Kant für die dogmengeschichtliche Sündenlehre so wichtig. 

Bei Schleiermacher setzt sich dieser Gedanke nun theologisch so fort, dass er zunächst die Schöpfungslehre verändert: Während man früher unter der Schöpfung Gottes überwiegend das ursprüngliche Schöpfungshandeln verstand (creatio ex nihilo), also das erstmalige in-die-Welt-Setzen von Natur, Tier und Mensch, legt Schleiermacher den Akzent auf Gottes Begleitung der Schöpfung (creatio continua). Gottes Wirken ist immer da, und zwar in uns selbst wie allgemein in der Welt. Für die Sünde bedeutet das, dass sie Ausdruck ist unserer „Hemmung des Gottesbewusstseins“: Während sich Jesus durch die vollkommene bewusstseinsmäßige Nähe zu Gott ausgezeichnet hat, ist diese Zuwendung zu Gott bei uns immer von allen möglichen egozentrischen Interessen gestört.

Im 20. Jh. kommt es bei Barth zu einer Rückwendung hin zu einer radikalen Differenz von Gott und Mensch: Gott ist so sehr der „ganz Andere“, dass wir uns als Menschen nur in einer prinzipiellen Differenz zu ihm befinden können – und zwar einer Differenz, die wir von uns aus niemals, auch nicht über irgendeine Art von Anknüpfungspunkt im Menschen, überwinden könnten. Zugleich ist Gottes Wirken nach Barth jedoch ebenso prinzipiell von seiner Gnade bestimmt, die wiederum so umfassend ist, dass niemand – ob er/sie das will oder nicht – aus Gottes Einflussbereich entweichen könnte. Wir können uns, streng genommen, auch nicht für oder gegen Gott entscheiden, weil Gott längst für uns entschieden hat; dem Menschen bleibt in diesem Sinne nur der „Gehorsam“. Deshalb kann Barth, trotz der bleibenden Differenz zwischen Gott und Mensch, von der Sünde als einer „ontologischen Unmöglichkeit“ sprechen, von einem „Nichtigen“, das die göttliche Gnade nicht tangiert.

Bei Tillich schließlich, nach ihm hatten sie ja speziell gefragt, ist die Sünde ebenfalls in ihrer prinzipiellen Dimension von Interesse. Er unterscheidet zwischen der „Essenz“ und der „Existenz“ menschlichen Lebens: Die Essenz wäre die schöpfungsgemäße, wesensgemäße, vollkommene und Gott nahestehende Lebensweise des Menschen, aus der wir aber in die Existenz gefallen sind, d.h. in unser reales Leben, in dem wir bedauerlicherweise nicht vollkommen und gottgemäß leben. Tillich bezeichnet dies auch als „Entfremdung“ und zeigt damit, dass man die Erfahrungen des 20. Jhs auch anders verarbeiten kann als Barth: Tillich entlässt den Menschen sehr viel weniger aus seiner Eigenverantwortung; wir müssen schon selbst einstehen dafür, dass wir uns von Gott entfremden – auch wenn er zugleich darum weiß, dass wir als Menschen so sehr in dieser Entfremdung verfangen sind, dass wir uns kaum aus eigener Kraft daraus lösen könnten. In seiner Wortwahl unterscheidet Tillich sich deutlich von Barth, weil er auf den ersten Blick eine religionsphilosophische Terminologie wählt, aber der Sache nach argumentiert er selbstverständlich zutiefst theologisch (was im Artikel „Sünde/Schuld und Vergebung“ in der 4. Auflage der RGG leider völlig missverständlich dargestellt ist; hier werden auch Schleiermacher, Tillich und Ebeling der „Religionsphilosophie“ statt der „Dogmatik“ zugerechnet).

In der Grundstruktur ist daher bei allen berühmten Theologien die Unterscheidung enthalten zwischen a) einer prinzipiellen Sündhaftigkeit des Menschen, die sich als faktische Egozentrik verstehen lässt, die aber nicht mit einem willentlichen Egoismus gleichzusetzen ist; ich bezeichne sie gerne als prinzipielle Defizienz/Fehlbarkeit; und b) der faktischen Sündhaftigkeit des Menschen, in der wir in bestimmten Dingen durchaus selbst verantwortlich sind, auch wenn wir in vielfältiger Weise in die Zeitläufte, sozialen Kontexte und psychischen Bedingtheiten verstrickt sind.

 

(Prof. Dr. Cornelia Richter)
 
Kommentar: Gesegneten Tag, Frau Prof. Dr. Cornelia Richter.
ich bin tief- und doch wieder nicht so tief beeindruckt,
dass in der Evangelischen Welt, der freie Wille

 ( Prof. Dr. Cornelia Richter. schrieb: "Realisierung der Freiheit nimmt in diesem Sinne die schöpfungsmäßig gegebene Freiheit des Menschen sehr viel ernster als manche zu eng gedachte Theologie – deshalb ist Kant für die dogmengeschichtliche Sündenlehre so wichtig")

so eingeschätzt wird (die schöpfungsmäßig gegebene Freiheit des Menschen) Woher wird dies (schöpfungsmäßig gegebene Freiheit des Menschen)genommen?

Ich sehe diese Freiheit als verloren an, nach dem Sündenfall! Erst der konkret Aufgerufene von Gott findet seinen Geh-hören-sam und die Kraft (vielleicht mit der Auferstehungskraft Gottes bei Jesus gleichzusetzen)zur Hinwendung an den, der sich zum Menschen hinwendet.
 
Antwort Prof. Dr. Cornelia Richter: Die "schöpfungsmäßig gegebene Freiheit" wird von keinem Menschen genommen, sondern ist - die Wortwahl war schon Absicht - gegeben. Zugleich ist diese Freiheit ja nie absolut zu verstehen im Sinne absoluter Selbstmächtigkeit des Menschen. Sondern sie ist relativ und lässt sich nur als fragile Lebenserfahrung bestimmen. Die Erzählung vom Sündenfall bringt genau das zum Ausdruck: Dass menschliches Leben unter endlichen Bedingungen eben kein un-bedingtes, selbstgesetztes und vollkommenes Leben ist. Was im Glauben hinzugewonnen wird, ist v.a. die Einsicht in diese prinzipielle Fragilität und Begrenztheit menschlicher Freiheit, die wir täglich zu realisieren haben. Mit Luther gesagt: Es ist das Evangelium, das uns die Sünde als Sünde verstehen lässt.
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