Liebesgebot und Wirtschaft
Was bedeutet das christliche Liebesgebot für ein christliches Unternehmen? Wie lässt sich das christliche Menschenbild konkretisieren? Entspricht es der Menschenwürde im Grundgesetz, geht es darüber hinaus?
Ihre Frage zielt auf mehrere spezifische Themen der christlichen Ethik, nämlich (1) auf das Verhältnis von Christentum und Unternehmensethik, (2) auf die Frage, ob es überhaupt so etwas wie das christliche Menschenbild gibt, und (3) auf die Frage der Bestimmung von Menschenwürde. Was in unserer Alltagssprache direkt zusammenhängt, ist der Sache nach freilich weit unterschieden, weil sowohl Menschenbild als auch Menschenwürde zwei Begriffe sind, die eine historisch, philosophisch und theologisch hoch komplexe Geschichte in sich tragen.
Es gibt seit einigen Jahren diverse Forschungsprojekte, die nach „dem“ christlichen Menschenbild fragen, aber in ihnen allen wird immer deutlicher, dass es das nicht gibt und auch nicht geben kann: Denn die Menschenbilder sind im Christentum so verschieden, wie die Zeitläufte, in denen sie formuliert werden. Wie wir uns als Menschen wahrnehmen, was wir für „typisch“ menschlich halten oder nicht, das ist in hohem Maße abhängig von dem historischen und kulturellen Kontext, in dem wir darüber sprechen. Stehen wir in einer patriarchalen, stark hierarchisch geprägten Kultur wie jener der biblischen Texte, dann werden die zum Menschen gehörenden Beziehungs- und Bestimmungsmuster, also die Bedeutung von familiärer/genealogischer und geographischer Herkunft, Geschlecht, Alter, Status sehr viel statischer ausfallen als in einer modernen Kultur wie der unsrigen, in der Identitäten und Rollenbilder z.B. milieuspezifisch gebildet werden. Auch das Menschenbild der mittelalterlichen Theologie ist ein deutlich anderes als das der bürgerlichen Aufklärungskultur des 19. Jh., in der man sehr viel expliziter über Menschenbilder und Menschenwürde nachgedacht hat. Gerade der Begriff der Menschenwürde stammt ja aus einem ganz spezifischen europäischen Kontext, in dem Freiheit, Autonomie und Individualität ein hohes Gut waren und bis heute sind. Dennoch ist der Begriff auch hier in Europa nicht eindeutig geklärt, v.a. wenn er mit Interessenskonflikten von Unternehmen, religiösen Gemeinschaften u.a. einhergeht. Zur genaueren Lektüre empfehle ich daher die Werke meiner Kollegen Hartmut Kreß hier in Bonn und Friedrich Lohmann, der v.a. zum Begriff der Menschenwürde ganz hervorragende Studien vorgelegt hat.
Gleichwohl, als minimale Kurzantwort würde ich wenigstens ihre ersten beiden Fragen so beantworten: Das christliche Liebesgebot (Doppelgebot der Liebe, Mk 12,29-31 par) heißt für die Unternehmensethik schlicht, den Mitarbeitenden mit einem fairen Leistungsanspruch (leistungsfeindlich ist das Christentum nämlich nicht!) einerseits, einer fürsorglichen Umsicht andererseits zu begegnen. Es geht sowohl um das ökonomische Fortkommen als auch um das Wohlergehen der Anvertrauten, v.a. bei deren Förderung in Familien- und Bildungsangelegenheiten – doch das wissen kluge Unternehmer eigentlich selbst. Aus christlicher Perspektive handlungsleitend sind sicherlich gegenseitiger Respekt und Anerkennung, Konflikte erst in Ruhe zu analysieren, die Positionen abzuwägen, auf Kooperation zu setzen, sich nicht selbst zum Richter aufzuschwingen und insgesamt jeden Konflikt vor dem Prinzip der Endlichkeit zu betrachten. Dass sich für viele dieser Aspekte Gedanken aus dem Dekalog (als Handlungsorientierung) und aus dem Vaterunser (als Hilfe zur Selbstreflexion und Zurücknahme) anbieten, dürfte sich von selbst verstehen.
(Prof. Dr. Cornelia Richter)