Die Unfehlbarkeit Jesu
Im Gespräch mit anderen Gläubigen kam uns die Frage auf, inwieweit Jesus als Mensch Fehler begangen hat. Gerade in Mt 15,21-28 und Mk 7,24-30 zögert Jesus, die Tochter einer heidnischen Frau zu heilen, weil er nur "zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel" gesandt sei. Zum Ende hin heilt er sie dann allerdings doch. Wie ist dieses Verhalten Jesu zu interpretieren? Hat Jesus Fehler begangen? Wie ist das in Einklang zu bringen mit der Vorstellungen eines unfehlbaren Gottes(sohn) und welche Bedeutung hat das für uns Menschen?
Zunächst einmal ist es wichtig, zwischen den biblischen, und d.h. hier: den neutestamentlichen Texten und der späteren kirchlichen Lehrbildung zu unterscheiden. Die Frage der Wesensgleichheit, der Trinität, der "Unfehlbarkeit" usw. sind Gegenstand des späteren Denkens und Fragens der Alten Kirche, es sind nicht die Fragen der neutestamentlichen (meist jüdischen) Autoren und ihrer Welt. Sie verfolgen in den Evangelien eine narrative Christologie, die eben gerade von der "unscharfen" und "offenen" Möglichkeit der Erzählung lebt, die besondere Verbindung oder vielleicht auch das Geheimnis der besonderen Verbindung von Jesus und Gott gerade nicht definitorisch, sondern in einer Geschichte auszusagen.
Noch einmal unterscheiden muss man dann auch zwischen dem historischen Jesus und dem in den Evangelien narrativ verkündigten Jesus Christus. In den Evangelien geht es nicht darum, was nun historisch genau los war und was historisch zuverlässig ist, sondern um die nachösterliche, geglaubte Bedeutung Jesu Christi für die Gemeinde. So hat sich etwa der historische Jesus selbst niemals als Messias bezeichnet, erst später, nach Ostern sagen die ersten "Christen": Dieser Jesus ist für uns der Messias. Der christliche Glaube beruht also nicht auf dem historischen Jesus, sondern auf der Zustimmung zu den frühen "Christen" und den Evangelien und Briefen, die in Jesus nach Ostern den verheißenen Christus erkennen und in ihm alles Heil des Gottes des Alten Testamentes lokalisiert sehen.
Historisch sicher ist, dass Jesus sich von Johannes dem Täufer hat taufen lassen. Da diese Taufe eine Taufe zur Vergebung der Sünden für die Rettung aus dem kommenden Gericht Gottes war, hat der historische Jesu, wenn er zu Johannes geht, um sich taufen zu lassen, sich als Sünder verstanden, der der rettenden Taufe zur Vergebung der Sünden bedarf.
Für Mk 7,24-30 und Mt 15,21-28 würde ich nicht unbedingt von einem "Fehler" Jesu sprechen, sondern eher von einer Änderung seiner Meinung und Haltung. Dies geschieht aufgrund des intensiven Bittens und des intensiven Dialogs mit Menschen, hier der hilfsbedürftigen Frau. Damit steht das in dieser Geschichte erzählte Handeln Jesu in der Tradition des Handelns und Seins des Gottes Israels. Denn der Gott des Alten Testaments macht sehr wohl "Fehler". Schon die Erwählung Israels und seine Fürsorge und sein Einsatz für es war ein Fehler – denn Israel dankt es Gott nicht und wendet sich lieber anderen Göttern zu oder sehnt sich, von Gott in die Freiheit der Wüste gerettet, nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurück. So gesehen ist die Erwählung Israels ein typischer Fehler, wie ihn alle begehen, die lieben … Umgekehrt empfindet es der biblische Gott aber auch als Fehler, wenn er Israel dann dafür straft, dass es ihm untreu wird. Das Elend, in das Israel durch Gottes Abwendung und Gottes Strafe gerät, kann Gott schlecht aushalten. Die Not Israels dauert ihn so, dass er sein Gericht über Israel als Fehler ansieht und sich Israel wieder zuwendet und sich seiner erbarmt (vgl. Hos 11,1-11 u.ö.). Entsprechend kann auch Abraham mit Gott über die Vernichtung Sodoms und Gomorrhas diskutieren und streiten – und Gott zu einer Änderung seines Verhaltens bewegen (Gen 18). Diese biblische Rede von Gott unterscheidet sich deutlich von späteren dogmatischen Versuchen, über Gott zu reden, in denen er dann etwa als "allmächtig", "unfehlbar", "unbewegten Beweger" usw. bestimmt wird.
In der geschilderten Linie der alttestamentlichen Rede von Gott könnte auch die Erzählabsicht von Mk 7 liegen. Dann ginge es darum, dass Markus Jesus in Parallele zum Gott Israels, so wie Gott im Alten Testament beschrieben wird, darstellen möchte: als einen, der sich durch das Leid und das intensive Bitten und Gespräch des Menschen beeinflussen, verändern lässt – und entsprechend bereit ist, Positionen und Verhalten zugunsten des auf seine Hilfe angewiesenen Menschen zu revidieren. So lässt sich hier Jesus überzeugen, dass seine Vorstellung, nur zu Israel gesandt zu sein, nicht zu halten ist, wenn Nichtjuden sich verzweifelt an ihn wenden, weil es eben in der Welt keine andere Hilfe als die des Gottes Israels und seines Sohnes Jesus für sie gibt.
Bei Matthäus 15 könnte die Geschichte von Matthäus im Rahmen seiner narrativen Theologie weiter ausgestaltet worden sein, wonach der irdische Jesus als Sohn Davids nur zu Israel gesandt ist, sich diese Mission aber nach Ostern nun auch als Sohn Gottes auch auf die Heiden (Völker) ausweitet (Matthias Konradt).
(PD Dr. Jochen Flebbe)